Chile - Wider den Neoliberalismus
10 Jahre nach Ende der blutigen Militärdiktatur unter Pinochet ist Chile wieder in den Schlagzeilen der Presse. Unter dem 15-jährigen Folterregime verschwanden nach dem, von chilenischen Militärs und dem US-amerikanischen Geheimdienst CIA geplanten, Putsch im September 1973 gegen die sozialistische Regierung unter Allende tausende Menschen für immer in den Gefängnissen der Geheimpolizei DINA, oder konnten nur noch in den Leichenschauhäusern des Landes identifiziert werden bzw. zu hunderten als Leichen aus dem Rio Mapocho in Santiago gefischt werden bzw. aus dem Meer, wenn sie aus den Hubschraubern der DINA "gefallen" waren. Hunderttausende Menschen wurden ins Exil gezwungen.
Der in Chile zum Senator auf Lebenszeit ernannte 83-jährige General Pinochet wartet nun in London, unter Hausarrest stehend, darauf, ob ihn der britische Innenminister Straw, nach Aufhebung seiner Immunität durch das britische Oberhaus, an Spanien ausliefern wird, um ihn dort wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, konkret geht es dabei um die Ermordung spanischer Staatsbürger in Chile, vor ein Gericht zu stellen. Der Hintergrund des juristischen Unsinns um das Auslieferungsbegehren soll an dieser Stelle nicht beleuchtet werden. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß politische Vertreter mörderischer Regime wie der Türkei oder Chinas nach wie vor unter enormen Sicherheitsaufwand europäische Staaten bereisen können, und für ihre Verbrechen nicht belangt werden.
Die Festnahme Pinochets als Hauptverantwortlichen der Militärdiktatur - viele seiner Generäle, Berater und Geheimdienstmitarbeiter sitzen heute auf sicheren Posten in Botschaften, im Parlament oder im Senat - hat jedenfalls einen in Chile schon lange an der Oberfläche schwelenden Konflikt wieder offen zum Ausbruch gebracht. Linke und rechte DemonstrantInnen liefern sich trotz Demonstrationsverbot stundenlange Strassenschlachten, die Regierungskoalition ("Consertaci??n") aus Christ- und Sozialdemokraten, die jahrelang die Aufarbeitung der Verbrechen der Miltärdiktatur behindert hat, gerät ins Wanken, da linke SozialdemokratInnen ihr bisheriges Verhalten nun zu überdenken beginnen, die rechtsextreme pinochettreue Opposition boykottiert die Parlamentssitzungen, die Kommunistinnen fordern eine Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur ... die Menschen beginnen, über die Zeit der Diktatur nachzudenken und darüber zu reden.
Das Jahr 1998 ist für die Regierungskoalition ohnehin schon schlecht verlaufen, die darauf bedacht ist, das von Pinochet exemplarisch eingeführte neoliberale Wirtschaftsmodell der Chicago-Boys, das Chile zu DEM Musterland des Neoliberalismus schlechthin gemacht hat, ungebrochen fortzusetzen. Zuerst floh der "Topterrorist" Patricio Ortiz Montenegro, Mitglied der kommunistischen Untergrundorganisation Frente Patriotico Manuel Rodriguez (FPMR) im Sommer aus einem chilenischen Hochsicherheitsgefängnis. und suchte in der Schweiz um politisches Asyl an. Nachdem ihn die Schweiz wegen Gefährdung seiner körperlichen und psychischen Integrität nicht an Chile ausgeliefert hat, beginnt in Chile eine allgemeine Diskussion über das chilenische Justizsystem, das viele Fragen über die Foltermethoden in chilenischen Gefängnissen aufwirft.
Im September begannen dann die diversen Gedenkveranstaltungen an die Ermordung des sozialistischen Präsidenten Allende und des chilenischen Volkssängers Victor Jara vor 25 Jahren, was zu teils heftigen emotionalen Reaktionen von Teilen der Bevölkerung auf den diversen Kundgebungen führte, die ihrer Wut und Trauer über die Grausamkeiten der Militärdiktatur Ausdruck verliehen. All dies kulminierte schließlich in schweren Strassenschlachten zwischen DemonstrantInnen und der Polizei am 11. September, dem Jahrestag des Putsches.
Große Teile der Bevölkerung beginnen ihre durch 25 Jahre Neoliberalismus geprägte gesellschaftliche Apathie zu überwinden, und beginnen sich in Stadtteilorganisationen und Landkooperativen zusammenzuschließen, und ihr Leben wieder in die eigene Hand zu nehmen. Der Staat hat sich schon längst aus der einzigen Verantwortung, die ein Staat überhaupt haben kann, nämlich aus der sozialen, davongestohlen. Über 50 % der chilenischen Bevölkerung leben an der Armutsgrenze, für die Finanzierung von öffentlichen Schulen und Krankenhäuser müssen die Gemeinden, die oft kein Geld haben, selbst aufkommen.
Ein solches Beispiel ist die Kommune CHEPICA, die ich im Sommer besucht habe, eine der ärmsten Gemeinden Chiles, 200 km südlich von Santiago gelegen. Es gibt dort keine Industrie. Die Menschen leben vor allem von der Viehwirtschaft. Die Kommune hat 15 000 EinwohnerInnen, und umfaßt eine Größe von 500 qkm. Das Eigentum konzentriert sich auf 5 Familen. Die Beschäftigung auf den großen Ranchos beschränkt sich für die Menschen vor allem auf den Sommer. Die Armut und die sozialen Schwierigkeiten sind groß. So beginnen viele Frauen, die oft bis zu sieben Kinder zu versorgen haben, nun damit, sich in Frauenkooperativen zusammenzuschliessen, um ihre Arbeit gemeinschaftlich zu organisieren, und um sich gegen den Alkoholismus der Männer zu wehren, und diese überhaupt in die Haushaltsarbeit einzubinden. Einzelne Organisationen und Personen beginnen weiters mit Projekten des ökologischen Anbaus in der Landwirtschaft. Sie versuchen dabei, den Schutz der ohnehin schon schwer geschädigten Umwelt mit dem Überleben der Menschen in Einklang zu bringen. Sie versuchen, eine Form von subsistenter Landwirtschaft aufzubauen, nämlich organische Hausgärten, so daß die Menschen die Lebensmittel selbst produzieren, die ihnen die tägliche Existenz sichern und sie unabhängig von den unsäglichen Entwicklungsprojekten neoliberaler Wirtschaftsexperten macht, die die Menschen verhungern lassen.
Projekte wie dieses sind in Chile überall im Entstehen, vor allem auch in Form von Nachbarschaftshilfe-Organisationen in den großen Städten wie Santiago.
Die Angst davor, sich zusammenzuschließen, nimmt rapide ab. Die Menschen reden wieder über Politik, und meinen vor allem, daß sie die Organisierung des gesellschaftlichen Zusammenlebens eigentlich ruhig selbst in die eigenen Hände nehmen können.