02.11.2000

§248 / Abs 22

Widerstandswoche 40

In den Jahren 1939-1942 wurden vom ehemaligen Aspangbahnhof zehntausende österreichische Juden in Vernichtungslager transportiert und kehrten nicht mehr zurück

Zu dieser Kundgebung rufen auf:
Abg. z. NR Karl Öllinger * Fachschaft Informatik Grün-Alternative Jugend (GAJ) * Guatemalakomitee * Infoladen 10 * Infoladen Grauzone * Infoladen Wels * Initiative Aspangbahnhof * Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) * Kulturverein Sägefisch * ÖH Uni Wien Fakultätsvertretung GRUWI * Revolutionsbräuhof (RBH) * Rosa Antifa Wien (RAW) * Sozialistische LinksPartei (SLP) * Studienrichtungsvertretung Politikwissenschaft * Verein Gedenkdienst * Zecken

Niemals vergessen!

Das ist dieses Jahr, von dem man reden wird.
Das ist dieses Jahr, von dem man schweigen wird.

Bertold Brecht

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten in Wien 42 Synagogen und jüdische Bethäuser, zahllose jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden geplündert, zerstört und beschlagnahmt. 6547 Juden wurden festgenommen und 3700 davon in das Konzentrationslager Dachau verschickt.
Hinter all diesen Daten, Zahlen und Fakten steht jenes unsagbar grauenvolle Leid, das in der "Reichskristallnacht", im "Novemberpogrom 1938" jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern von den nationalsozialistischen Machthabern angetan wurde.
Diese Nacht vom 9. zum 10. November 1938 war kein Randphänomen der Geschichte des Dritten Reiches, sondern ein Geschehen, dem zentrale Bedeutung zukommt.
Die "Reichskristallnacht" war eine Hauptstation auf dem Weg der verbrecherischen nationalsozialistischen Judenpolitik zum Völkermord.
Der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels nützte das Attentat des 17jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris zum Aufruf zu einer von Partei und Staat getragenen reichsweiten Strafaktion gegen die Juden. Getarnt als "spontanen Ausbruch des Volkszorns" schlugen die Nationalsozialisten zu und zeigten erstmals unverhüllt ihren auf die Juden gerichteten Vernichtungswillen. Allzuviele opportunistische Mitläufer folgten, die Juden blieben ohne Hilfe dem verbrecherischen Treiben ausgeliefert. Es waren wenige, die offenen Widerstand wagten. Es waren auch zu wenige, die ihre Mißbilligung äußerten, statt in den geifernden Chor einzustimmen. Dabei wäre gerade auch das immens wichtig gewesen.
So fand in der Woche vor dem 9. November 1938 in Kassel (heutige BRD) quasi ein Probelauf statt, bei dem ein regional begrenztes Pogrom inszeniert wurde. Die Machthaber waren sich ihrer Sache ganz einfach nicht völlig sicher. Die Zustimmung und auch aktive Beteiligung der Bevölkerung übertraf alle Erwartungen der Nazis.
Was danach kam, ist allgemein bekannt: Auf die sukzessive Entrechtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nürnberger Rassengesetze usw. und das Novemberpogrom folgten die Arisierungen, das Einpferchen in Ghettos, am Schluß die industrielle Vernichtung von Millionen Menschen am Historikerstreit wieviele es waren, wollen wir uns nicht beteiligen.
Vom ehemaligen Aspangbahnhof sind die Wiener Juden in die Konzentrationslager gebracht worden.
Und wer es wissen wollte, hat Bescheid gewußt.
***
Der vielen anderen Menschen, die durch das nationalsozialistische Regime gequält, drangsaliert, umgekommen und ermordet worden sind, wollen wir bei dieser Kundgebung ebenfalls gedenken: Linke, Menschen die gegen den Faschismus Widerstand geleistet haben, Homosexuelle, Sinti und Roma, sogenannte "Geisteskranke" und sogenannte "Asoziale" Kriminelle und Obdachlose. Ebenso all derer, die in Hitlers Raubkriegen umkamen für die Hybris und den Größenwahn deutscher, aber auch österreichischer Politiker und Großindustrieller. Denn in keinem Fall wollen wir die fatale Trennung der professionellen Vergangenheitsbewältiger mitmachen, die Trennung zwischen "unschuldigen" Opfern (den wegen ihrer "rassischen" Herkunft verfolgten) und solchen, wo irgendwie unausgesprochen immer mitschwingt, sie seien an ihrer Verfolgung auch noch selber schuld: Allen anderen. Es gibt für uns da keinen Unterschied: Es war dasselbe, unnötige weil vermeidbare, durch genügend Gegnerschaft vermeidbare Leid. Denn Menschen waren alle und Menschen leiden unter Folter, Hunger, Zwangsarbeit; Menschen leiden, wenn sie merken, daß sie sterben müssen und das nicht wollen. Binsenweisheiten.
Wenn man aus der Geschichte etwas lernen kann, dann das: Wir werden vergleichbares nicht mehr zulassen.

Wider die antisemitische Normalität!

Die Argumentation das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen zu sein, stellt die grundlegende Lebenslüge Österreichs dar, die zum obersten Grundsatz des Umgangs mit der NS-Vergangenheit wurde. Der verbal konstruierte vollständige Bruch mit dem Nationalsozialismus, mit seinen Ursachen und Folgen, war und ist das identitätsstiftende Moment der postfaschistischen Demokratie. Die kollektive Verdrängung der Beteiligung an der Massenvernichtung des europäischen Judentums mittels der herbeiimaginierten Opferrolle schuf die speziell österreichische postnationalsozialistische Intimität, in der der Antisemitismus sowohl überleben als auch seine spezifische, sekundäre Aussprägung erhalten konnte. Vor dem Hintergrund dieser völligen Verdrängung ist etwa die Reaktion der Ex-Sozialministerin Sickl zu sehen, die auf die Erzählung eines griechischen Diplomaten, daß es in Rhodos nach 1945 gerade noch sechs Juden und Jüdinnen gegeben habe, nur zu fragen wußte, wo die restlichen denn hingegangen seien. Dieses offensiv vorgetragene Nicht-Wissen-Wollen markiert einen der zentralen Punkte des österreichischen Antisemitismus nach dem Nationalsozialismus.
Die ungebrochene Identifikation mit der Nation braucht den Schlußstrich unter eine Vergangenheit, die als das größte Verbrechen der Menschheit firmiert. Die ersehnte positive nationale Identität erfordert eine identifikationsfähige Vergangenheit und bringt einen Antisemtismus hervor, der sich aus aggressiven Entlastungswünschen speist, als "Antisemitismus wegen Auschwitz" zu charakterisieren ist. Dieser ist eine Reaktion des Antisemitismus auf die gesellschaftlichen Veränderungen nach der Vernichtung des europäischen Judentums. Er gründet einerseits in den ungebrochenen gesellschaftlichen Bedingungen, die das bürgerliche Subjekt als strukturell antisemitismisches und nationalistisches setzen, andererseits in der dazu notwendigen Verdrängung der Vernichtung des europäischen Judentums, ohne die eine bruchlose Identifikation mit der österreichischen Nation nicht mehr möglich ist. Der Versuch, die nationale Identifikation aufrechtzuerhalten bringt so eine Tendenz zur irrationalen Abwehr und zum aggressiven Zurückschlagen hervor.
Die Jüdinnen und Juden werden als verschwörerische Macht imaginiert, welche über dunkle Kanäle Einfluß auf Österreich nehme und die Vergangenheit nicht ruhen lasse, um sich permanent besondere Privilegien zu sichern. So meinte etwa Jörg Haider auf einer Veranstaltung der FPÖ in der Wr. Stadthalle, daß es ja wohl nicht anginge, daß immer nur die Kreise an der Ostküste abkassieren, und forderte stattdessen eine Entschädigung für die nach 1945 vertriebenen Deutschen. Die Vernichtung des europäischen Judentums wird so in einem Strom der Geschichte zum Verschwinden gebracht, damit relativiert und "entsorgt". Diese Entsorgung funktioniert jedoch nur über antisemitische Projektionen, weswegen die österreichische Identitätssuche erneut die Abgrenzung zur "jüdischen Gegenrasse" hervorruft.

Verein Gedenkdienst


für diese Ausgabe verantwortlich:
Revolutionsbräuhof