05.11.2009

Niemals vergessen! Antifaschistischer Rundgang am 11.11. & RAW-Flugblatt

Während des Novemberpogroms 1938 wurden 27 jüdische Männer ermordet, es gab 88 Schwerverletzte, dutzende Selbstmorde, mehr als 6500 Festnahmen. 3.600 verhaftete Juden und Jüdinnen wurden direkt in das Konzentrationslager Dachau transportiert, 4000 Geschäfte wurden geplündert und zerstört und 2000 Wohnungen geraubt - im NS-Jargon – "arisiert".

Es gab auch noch Tage danach.

Während der 9. November mittlerweile auch in Wien als Gedenktag begangen wird, wird über die antisemitische Kontinuität, die die Zeit davor und danach prägte, kaum gesprochen.

Wo am 9. November noch Synagogen und Bethäuser standen, waren in den Tagen darauf nur noch verkohlte Brandruinen. Wo es noch Geschäfte und Lokale gab, lagen nur noch Scherben - die Scherben nach denen die Nazis den Tag höhnisch "Reichskristallnacht" nannten und deren Beseitigung einen neuen Anlass für Demütigungen und Gewalt bot. Wie an der Zerstörung waren auch hier SA, SS, NachbarInnen und BürgerInnen beteiligt.

Wo am 9. November Angst herrschte, war in den Tagen danach nur noch Verzweiflung. Zehntausende Juden und Jüdinnen wussten nicht, was mit ihren FreundInnen, Verwandten und NachbarInnen geschehen war.

Wo am 9. November noch Verzweiflung war, da war in den Tagen danach nichts mehr - 27 Morde hatten SA und SS unter Beifallklatschen von NachbarInnen und BürgerInnen begangen. Und die Angst ließ dutzende den Freitod wählen.

Das war der November 1938 in Wien.

Der 9. November war ein Höhepunkt von Pogromen, die es in Österreich seit dem "Anschluss an das 3. Reich" tagtäglich gab, aber er war nicht das Ende. Das Sprichwort, "Und morgen geht die Sonne wieder auf", stimmt hier nicht, es dauerte noch fast sieben Jahre, bis den Nazis Einhalt geboten wurde.

Mit einem Rundgang wollen wir aufzeigen, wie flächendeckend die antisemitischen Ausschreitungen und Arisierungen in Wien stattfanden.

Der Rundgang führt uns durch den 10. Bezirk, der bis 1938 eine lebendige jüdische Gemeinde beherbergte, über die heute kaum etwas bekannt ist. Wir haben einige Stationen ausgewählt um an diese Gemeinde, an ihre Zerstörung und den vielfachen Mord zu erinnern:

* Favoritenstrasse 106: Krankenunterstützung und Bethausverein Ansche Emes - Männer der Wahrheit

* Humboldtgasse/Humboldtplatz: Humboldt-Synagoge, Jüdischer Frauenwohltätigkeistverein für den 10. Bezirk, Humanitätsverein für den 10. Bezirk

* Uhlandgasse 2: Jüdischer Turnverein Makkabi Wien X

* Gudrunstrasse 125: Bund Jüdischer Frontsoldaten

* Pernerstorfergasse 25: Zionistische Ortsgruppe Favoriten-Simmering des Zionistischen Landesverbandes für Österreich + Sparverein Deworah

* Ettenreichgasse 9: Steine der Erinnerung für Janka Löwenstein/Adler und für Risa und Simon Steiner

* Reumannplatz: Denkmal für die Opfer des Faschismus

Wir bitten euch Gegenstände wie Transparente, Fahnen, Megaphone etc. zuhause zu lassen.


Es gibt die Möglichkeit den Spaziergang mit einem Filmabend im que[e]r (Wipplingerstraße 23, 1010 Wien) ausklingen zu lassen. Informationen dazu gibt es im aktuellen que[e]r-Programm

 

9. November 1938 - Niemals vergessen!

Am 9. November jährt sich jener Pogrom, der im "Dritten Reich" die Verfolgung jüdischer Menschen eskalieren ließ. Gab es schon zuvor Diskriminierungen durch die "Nürnberger Rassengesetze" und antisemitische Ausschreitungen, sollte der Novemberpogrom (von den Nazionalsozialsozialist_innen als "Reichskristallnacht" bezeichnet) die Deutschen und Österreicher_innen auf die "Ausrottung" des europäischen Jüd_innentums einschwören und gleichzeitig der Naziführung ein Stimmungsbild verschaffen. Sie wurden nicht enttäuscht. Nachdem der 17-jährige Hershel Grynszpan den deutschen Botschaftsrat in Paris getötet hatte, sah die Nazispitze die Gelegenheit gegeben, im ganzen Land die Bevölkerung gegen Jüd_innen zu mobilisieren.

Und an jenem 9. November 1938 kam es zur sogenannten "Reichskristallnacht" (weil sich in der Nacht das Licht in den zerbrochenen Fensterscheiben jüdischer Geschäfte widerspiegelte). Nicht bloß organisierte SA-Trupps führten den Pogrom durch, nein, die Bevölkerung mischte tatkräftig mit. Plünderungen, Demütigungen und Morde wurden in jener Nacht vom Mob verübt. Teilweise ging das der Nazi-Führung insofern zu weit, als sie befürchtete, dass Sachwerte zerstört und verloren gingen. Allein in Österreich wurden in jener Nacht 27 Jüd_innen ermordet, 88 schwer verletzt, mehr als 6.500 festgenommen, 42 Synagogen wurden in Wien zerstört, mehr als 4.000 Wohnungen und Geschäfte verwüstet und 2.000 Wohnungen zwangsgeräumt.

Während die Novemberpogrome in Deutschland eine neue Qualität darstellten unterschieden sie sich in Wien nur im Umfang und den Massenverhaftungen, antisemitische Pogrome gab es seit dem "Anschluss" immer wieder. Die Kontinuität der Miss- und Verachtung, der körperlichen Gewalt gegen Jüd_innen, das Verlangen nach Besitz und Wohnungen der Jüd_innen erklärt auch, weshalb der Novemberpogrom in Wien mit verhältnismäßig massiverer Verfolgung verbunden war und der Pogrom nicht "nur" eine Nacht sondern mehrere Tage andauerte.

Die Wiener Bevölkerung trieb es soweit, dass selbst die Gestapo Mühe hatte, den Mob unter Kontrolle zu bringen. Für die Nazis war es ein Erfolg: nun waren sie sich der Unterstützung der Bevölkerung sicher. Was danach kam, ist bekannt: Einsatzkommandos, Vernichtungslager, sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden. Und alles mit Präzision und Gewissenlosigkeit.

6 Millionen ermordete Juden und Jüdinnen, 3 Millionen ermordete Roma, Sinti, behinderte Menschen, Menschen aus Polen, Russland, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Homosexuelle, Kommunist_innen, Sozialist_innen und noch viele mehr, die in Konzentrationslagern ermordet wurden. Es brauchte 17 Millionen zivile Tote in der ehemaligen Sowjetunion, 3,3 Millionen verhungerte sowjetische Soldat_innen in deutschen Lagern und Millionen von toten alliierten Soldat_innen, um den Vernichtungswahn der Nazis Einhalt zu gebieten. Am 8. Mai 1945 wurde diesem Terror durch die Alliierten Streitkräfte ein Ende gesetzt.

Täter_innen

Und nicht etwa durch Österreicher_innen oder Deutsche. Die überwältigende Mehrheit hat die Shoah und den Raubkrieg unterstützt oder toleriert. Viele profitierten davon, und zeigten kein Interesse daran, dem Unbeschreiblichen ein Ende zu bereiten. Die Alliierten mussten nach der Befreiung feststellen, dass von Reue keine Spur war, eher machten sich depressive Gleichgültigkeit und Angst vor Vergeltung.

Die unfassbaren Opferzahlen selbst interessierten hier keine_r. Zwecks Wiederaufbau wurde die deutsche Volksgemeinschaft durch die österreichische Volksgemeinschaft ersetzt und beim vielen Zupacken wollte sich hier keine_r mit der gerade verflossenen Nazizeit beschäftigen. Die Entnazifizierung wurde bald beendet, viele Täter_innen und Mitläufer_innen kamen unbehelligt davon, und besetzten wieder politische Ämter und behördliche Funktionen. Selbst im Kabinett Kreisky fanden sich noch drei ehemalige NSDAP-Mitglieder. Und davon gab es nach 1945 so viele, dass SPÖ und ÖVP sich nicht genierten, um ihre Stimmen zu buhlen. Die Vorgänger_innen-partei der FPÖ, der Verband der Unabhängigen (VdU), war ohnehin Sammelbecken derer, denen Jörg Haider noch 1995 eine ordentliche Gesinnung attestierte.

Auswirkungen

Und so konnte es geschehen, dass ein Kurt Waldheim WEGEN seiner SA-Vergangenheit Bundespräsident wurde, dass ein Jörg Haider mit Nazikoketterie die FPÖ 1999 an 28% heranführen konnte und posthum als "großer Politiker" geehrt wird, dass ein Mitglied einer rechtsextremen Burschenschaft 3. Nationalratspräsident wird, dass antisemitische Aussagen und neonazistische Anbandeleien von Politiker_innen augenzwinkernd akzeptiert werden. Die Motive, mit denen solche Politiker_innen gewählt werden, sind immer noch vorhanden: Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Denunziant_innentum und Autoritätshörigkeit. All diese in Österreich tief verwurzelten Eigenschaften machten auch den 9. November 1938 - und alles was danach noch kommen sollte - möglich.

Diese Kundgebung will ein Anstoß dazu sein, diesen Zuständen entschieden entgegenzutreten - in jeder Situation.

In diesem Sinne:

Niemals vergessen!
Österreichische Zustände bekämpfen!

Rosa Antifa Wien (RAW)